Ein Land in politischer Narkose

  Von Prof. Dr. Martin BalleVor wenigen Tagen fand an der Hochschule für Philosophie bei den Jesuiten in München eine interessante Podiumsdiskussion statt. „Lügenpresse“ heißt der Vorwurf, der im Raum steht. Pegida und die rechtsradikale AfD haben diesen Begriff aufgebracht und werfen ihn zu jeder Stunde in den gesellschaftlichen Diskurs ein. Gemeint ist, dass die Medien falsch, verstellt oder gar nicht berichten. Dass es eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit gibt, die verschwiegen wird.Auf dem Podium diskutierten der ehemalige Intendant des ZDF, Markus Schächter, der Chefredakteur des ZDF, Peter Frey, und auch führende Redakteure von Süddeutscher Zeitung und der Wochenzeitung Die Zeit. Und es wurde schnell klar: Es gibt keine Lügenpresse. Selten zuvor in der deutschen Mediengeschichte gab es so viele redaktionelle Angebote wie heute. Kommentare und Leitartikel aus allen politischen Himmelsrichtungen. Und so wurde kritisiert, dass heute sogar Wissenschaftler an den Hochschulen und Universitäten Seminare über den Begriff der Lügenpresse ausrichten, wo dieser Begriff doch dem Kampfinstrumentarium der rechten Schmuddelecke zuzurechnen ist.Leere politische AttrappenStellt sich aber die Frage: Weshalb hat dieser Begriff gesellschaftliche Relevanz erhalten? Weshalb haben viele Menschen den Eindruck, dass sie von den Medien nicht ausreichend informiert werden? Und schon vorher: Weshalb gibt es in Deutschland plötzlich ein Wählerpotenzial von fast 20 Prozent für eine Partei, die im weitesten Sinn asozial ist? Die nichts zu bieten hat und deren politische Rede selber von Lügen und Manipulationen durchsetzt ist? Ganz wie in Amerika: Donald Trump ist selber ein Lügner, aber es gelingt ihm bei vielen, das etablierte Washington als verlogene Klientel darzustellen. Weshalb ist das so? Schon Sigmund Freud sagte, dass in jeder Perversion noch der Funken der Liebe sichtbar wäre. Und so kann man fragen: Was sagt uns diese neue politische Entwicklung über uns selbst, über unser politisches System?Vor Kurzem saß ich mit einem ehemaligen Fraktionssprecher der CDU in Berlin zusammen. Er meinte, er habe auch die Kanzlerschaft Schröders in Berlin noch miterlebt, aber die Regierung Merkel sei mit Abstand nochmals schwächer als die Regierung Schröder. Und das sagt er als ehemaliger Fraktionssprecher der CDU! Und er fügt hinzu: Und wir mussten regelmäßig Pressemeldungen für die Öffentlichkeit schreiben, in denen buchstäblich keine politischen Inhalte mehr vorkamen. Hier liegt exakt der Kern des Problems. Nicht die Presse, das Fernsehen, die Medien lügen. Sondern Angela Merkel hat ein ganzes Land narkotisiert!Es gibt keine politischen Inhalte mehr, die kantig und eckig und sperrig sein dürfen. Das System Merkel laviert durch die politischen Nebellandschaften und fährt auf Sicht, jeden Tag neu berechnend, was zum eigenen Vorteil gereichen könnte. Nur nichts wirklich aussagen, das ist die Botschaft der Sprechapparate Altmaier und Kauder, die für das System Merkel als politische Puppen stehen. Das sind Attrappen, die leer sind und für nichts stehen als den Machterhalt einer Kanzlerin, die kein anderes Ziel hat, als an der Macht zu bleiben. Und so kommt es eben zu einem Phänomen, was die Philosophie und die Psychologie den Entzug von Wirklichkeit nennen.In der Endlosschleife einer leeren Welt kreist Angela Merkel mit ihren Leuten über Deutschland. Und die Menschen, die abends die Nachrichten anschauen, gehen mit dem Eindruck schlafen, dass es gar keine Welt mehr gibt, außer dass in Syrien Bomben fallen. Und das jeden Abend.Künstliche Welt füllt VakuumWas sollen da die Medien machen? Sie können keine Regierungserklärung, in der sich politische Inhalte finden, erfinden. Das wäre eine Lügenpresse! Sie sind als Protokollführer der Exekutive an das Handeln der Exekutive gebunden. Sie können es kritisieren. Aber wie kritisiert man eine leere Welt? Bei der Tagung in München meldete sich eine feine ältere Dame und sagte, sie störe es, dass im Fernsehen fast nur noch Krimis gezeigt würden. Sie erhielt viel Beifall. Aber das gehört natürlich zusammen. Für die Krimis gibt es gute Gründe. Wo nichts mehr geschieht, da muss künstlich Spannung erzeugt werden. Also gibt es jeden Abend Krimis auf allen Stationen. Die entzogene Wirklichkeit wird mit harten Krimis und unendlich vielen und sinnlosen Quizshows kompensiert.Wer den Tatort am letzten Sonntag in seiner unglaublichen Brutalität gesehen hat, der muss entsetzt sein, wie gewalttätig die künstliche Ersatzwelt ist, die die Medien zu schaffen begonnen haben. Das ist keine Lüge, aber die Frage stellt sich: In welcher Welt leben wir heute? Was ist unsere gesellschaftliche Realität? Eine leblose Politik, in der Folge ein häufig leeres Sprechen in den Medien, wie der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan das nennt, aber dafür eine höchst lebendige tödliche Krimikultur. Was macht das mit unseren Köpfen und Seelen? Ein Riesenvakuum, das mit künstlicher Welt gefüllt wird.Und in dieses Vakuum hinein platziert eine Partei, die wirklich keiner braucht, den Begriff „Lügenpresse“. Und das dann mit Erfolg, obwohl ja gar nicht gelogen wird.In der Philosophie und auch in der Psychologie gilt der Entzug von lebendiger Wirklichkeit als das Kapitalverbrechen, das man mit Menschen machen kann. Wer ohne Wirklichkeit leben muss, wird anfällig für Krankheit und Wahnsinn. Das gilt im individuellen Sinn: Wer arbeitslos ist und nicht mehr teilnehmen kann, der wird leicht krank.Das gilt aber auch gesamtgesellschaftlich. So sagt uns die Philosophie, dass das Böse nicht das Gegenteil des Guten ist, sondern das Abwesend-Sein von Identität und Selbstbestimmung. Böse wird, wer keine Gegenwart und keine Wirklichkeit mehr spürt. Wo die Welt kein Resonanzraum mehr ist für die Sehnsucht nach Leben. Die bleierne Wirklichkeit, die das System Merkel über Deutschland gelegt hat, empört den, der noch zur Empörung fähig ist. Viele sind es nicht mehr. Und die, die auf die Straße gehen und Lügenpresse schreien, sind buchstäblich schlecht informiert, um es vorsichtig zu sagen.Was also tun? Erst einmal die Dinge durchschauen. Verstehen, dass das scheinbar Unpolitische sehr politisch ist. Erkennen, was mit unserer Gesellschaft und Kultur geschieht. Es ist nicht nur die digitale Welt, die mit ihrer Anonymität in unserer Kultur alles verändert. Es sind immer Menschen, die Gründe und Ziele haben, die manipulieren und den eigenen Vorteil suchen. Die Nachrichten zeigen es täglich: In der Türkei wird gefoltert, aber Angela Merkel sitzt mit dem Quasidiktator Erdogan an einem Tisch und bespricht unsere Zukunft mit ihm. Wenn wir wieder fähig werden, unsere Empörung zu spüren, dann werden wir auch wieder fähig, unsere Wirklichkeit zu ändern!


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